Reich oder arm. Unglücklich kinderlos, unglücklich schwanger. Die Ratten vereint die Welt in einem Mietshaus in einer beeindruckenden Inszenierung von Alize Zandwijk am Theater Bremen. Intensiv und fesselnd mit intelligentem Minimalismus.
Kein Wimmelbild
In einem Haus vereint: das Berlin der Armen, Verruchten, der Reichen. Eine Betonkulisse wird die nächsten drei Stunden die Handlung rahmen und uns mit ungeahnter Aufmerksamkeit fesseln. Ein unordentliches Haus! So schief. Aber hängt nicht auch der Haussegen einfach schief?
Direktor Hassenreuters Kostümfundus ist gleichzeitig sein heimliches Liebesnest oder zuweilen Theaterschule. Aus dem Nichts erscheint der gnadenlose Hausmeister und verfolgt wie unsichtbar alle Geschehnisse der Immobilie. Ja, er nimmt sich das Recht, schließlich treibt er ja die Miete ein. Die Welt der zwei Etagen, die belebte Straße, das karge Badezimmer im Untergeschoss. Während wir selbst so leben, in unseren Wohnungen sitzen und „wohnen“ oder Blogbeiträge schreiben oder verträumt eine Weltrevolution am Couchtisch skizzieren, passieren viele Dinge gleichzeitig. Aus der Wohnung heraus hören wir Fetzen der anderen Leben. Und genauso ist es auch mit bewundernswertem Minimalismus auf der Bühne von Die Ratten. Dieses Mietshaus, vielleicht auch schief unter all der Last, die es tragen muss, zeigt das einsame Leben der Frau John. Immer drinnen, immer am räumen. Verheiratet aber allein. Zuweilen kommt der Bruder zu Besuch. Der Bruder Bruno, der vom Wege abgekommen ist, ein Gauner sein soll. Jedoch als einziger seine Schwester Jette wirklich versteht, ihren wachsenden Irrsinn erkennt. Der Bruder muss seinen Stempel schultern: er ist die Last der Familie, der Versager und stürzt sich selbsterfüllend in das Schurkentum. Jette John mimt die Vernünftige, unterstützt ihn mit Geld und verteidigt ihn so gut sie kann. Der Bruder riecht den Braten: wieso ist diese schwangere Pauline im Haus? Wir sehen sie in einer anderen Etage. Was heckt ihr aus? Pauline sucht Schutz bei Frau John. Schwanger, obdachlos hadert sie mit ihrem Schicksal. Der Kindsvater weiß nichts von seinem Glück. Sie ist allein. Was soll nur werden? Sie will sich und das ungeborene Kind umbringen, sagt sie, in einem wütenden Verzweiflungsmonolog. Der Verzweiflungsmonolog in gebrochenem Deutsch wiederholt sich wieder und wieder im Laufe der Schwangerschaft. Frau John sieht ihre Chance und will ihr das Kind nach der Geburt abnehmen. „Das Würmchen solls richtig gut haben, wie kein geborener Prinz auf der Welt und kein geborenes Prinzesschen es so guthaben tut.“ sagt sie. Dafür bekommt Pauline einhundertdreiundzwanzig Mark.
Glück im Unglück gibt es nicht
Die unglücklich kinderlose Frau John hat jetzt einen Säugling, das wird gefeiert. Ihr Kind. Das Nachbarsbaby ist zu krank, darf nicht mehr in die Wohnung. Frau John will kein Risiko eingehen, denn ihr eigenes Kind ist nach acht Tagen an Brechdurchfall eingegangen. Seither war nicht viel Freude unter den Eheleuten John. Herr John, sonst nach Altona wegen besserer Aufträge als Maurerpolier geflüchtet, kommt nach Hause. Er ist Vater geworden! Welch eine Freude. Die Direktorenfamilie kommt zum Gratulieren. Herr Hassenreuter überläßt seinen Kostümfundus der Pflege von Frau John und kennt die Familie. Nun soll es besser werden, das Kind soll gesund bleiben. Die besten Wünsche aus der oberen Etage der privilegierten Hassenreuters. Auch dort spielt sich hinter der Fassade der ordentlichen Bürgerlichkeit einiges an verbotener Liebe und Tragik ab. Walburga verliebt sich in den theologischen Hauslehrer. Sein geheimster Traum ist ist eine Karriere als Schauspieler. Alle Väter hier empören sich über die Zukunftsträume ihrer Kinder. Im wohlsituierten Haus Hassenreuter spielen sich die Dramen hinter bürgerlicher Fassade ab. Der Patriarch kommt mit Affairen über die Runden. Die Ehefrau tränkt die Sorgen mit Wein. Das Mädchen durchschaut die Abgründe. Was soll also werden? Die gleichzeitigen Prozesse fesseln uns im Publikum. Es wird dramatisch. Eine Aktion wird uns den Atem rauben. Die traurige italienische Musik trifft uns mitten ins Herz. Die übergeworfene Kittelschürze ist der schwerlastende Schleier häuslicher Arbeit.
Die Ratten, haben sie die Kostüme unterm Dachboden zerfressen? Welche Ratte in uns lässt uns kein Mitleid haben? Warum schreiten wir nicht ein? Wenn ich nicht glücklich sein kann, dann auch niemand anders? Streben nach Konformismus macht alles kaputt. Ich bin drei Stunden gefesselt. Die Inszenierung in Mietshaus ist so unglaublich sinnlich und intelligent. Mein Blick schweift. Es ist einfach nicht zu fassen. Dinge passieren betont minutiös. Szenen passieren betont abstrakt und immer wird dem Publikum sofort klar, an welcher Stelle, welcher Grad an Vorstellung und Abstraktion verlangt wird. Die unveränderte Kulisse ist doch ein so vielseitiger Spielplatz an dem Dinge leise, langsam und doch dramatisch passieren. Ich tauche in die Gedankengänge, das Unglück ein aber ich werde nicht gequält. Es wirken so viele Perspektiven auf mich ein, dass ich mehrere Seiten der Geschichte betrachten muss.
Natürlich wirkt das Erlebnis nach. Leute können über Kinderzwang, Kinderwunsch, Beziehungskonzepte, patriarchale Machtdemonstrationen, die Kleinfamilie, Nonkonformismus nachdenken. Und und und.
Keiner Hinweis zum Berlinerisch
Bei leichten Sprachfärbungen wird mein Linguistinnenohr hellhörig. So auch in der anschließenden Erklärung im Rahmen der Premierenfeier von Generalintendant Prof. Börgerding. Der Ursprungstext von Gerhard Hauptmann wurde in starkem Berlinerisch verfasst. Die Version im Theater Bremen ist textlich angepasst, daher wird nur an manchen Stellen kontrolliert berlinert. Ich hatte mich darüber gewundert, das ist aber so gewollt. Andere Inszenierungen haben alle Schauspieler*innen in ihrem jeweiligen Heimatdialekt sprechen lassen. Hier wurde darauf verzichtet.
Besetzung Die Ratten im Theater Bremen
Frau John Nadine Geyersbach
John, ihr Mann Alexander Swoboda
Bruno Mechelke, ihr Bruder Denis Geyersbach
Dr. Käferstein, Schauspielschüler Denis Geyersbach
Pauline Piperkarcka Gina Haller
Harro Hassenreuter Guido Gallmann
Frau Hassenreuter, seine Frau Verena Reichhardt
Walburga, seine Tochter Mirjam Rast
Erich Spitta Simon Zigah
Pastor Spitta, sein Vater Martin Baum
Quarquaro Martin Baum
Frau Sidonie Knobbe Verena Reichhardt
Selma, ihre Tochter Susanne Schrader
Alice Rütterbusch Susanne Schrader
Musiker Beppe Costa
Regie Alize Zandwijk
Bühne Thomas Rupert
Kostüme Regine Standfuss
Musik Beppe Costa
Licht Mark Van Denesse
Dramaturgie Viktorie Knotková
Termine
Freitag, 09. März 2018, 19:30 Uhr / Voraufführung / Öffentliche Probe
Samstag, 10. März 2018, 19:30 Uhr / Premiere
Freitag, 16. März 2018, 19:30 Uhr
Sonntag, 25. März 2018, 18:00 Uhr
Dienstag, 10. April 2018, 19:30 Uhr
Samstag, 14. April 2018, 19:30 Uhr
Mittwoch, 18. April 2018, 19:30 Uhr
Donnerstag, 10. Mai 2018, 19:30 – 21:30 Uhr
Mittwoch, 30. Mai 2018, 19:30 Uhr
Freitag, 19. April 2019, 15:30 – 18:25 Uhr / Zum letzten Mal
Termine auf der Seite des Theater Bremen.
2 Kommentare
[…] eine Tanztheaterachterbahn haben mich Polaroids und Crash fahren lassen. Die Ratten versetzten mich in die existenzielle Schreckstarre. Bittersüße Gefühle von Glück und Tragik. […]
[…] und war sehr ergriffen vom Stück. Ist immernoch sehr sehenswert. Lest euch gern in meinen Theaterbericht hinein. Ansonsten kann man sich auf das 2019er Partnerland der jazzahead! einstimmen, mit dem […]